Die Bush-Regierung hat als Vergeltungsmaßnahme für die Entscheidung der Regierung Morales, den US-Botschafter auszuweisen und US-Projekte in Bolivien zu schließen, neuerliche Sanktionen gegen Bolivien verhängt.
Morales reagierte damit auf die kaum verhüllte Unterstützung der USA für den von ihm so bezeichneten "zivilen Staatsstreich" der herrschenden Elite in der östlichen Halbmond-Region. In dieser Region streben die reichen Grundbesitzer nach Autonomie, um die Kontrolle über die dort konzentrierten, beträchtlichen Energiereserven zu erlangen.
Bei einem organisierten Aufstand kam es in diesem Monat zu vielen Toten und nahezu eintausend Verletzten. Das Massaker an etwa dreißig Bauern am 11. September bei El Porvenir, nahe der bolivianischen Nordgrenze zu Peru und Brasilien, war eine Gräueltat dieser rechten Rebellion.
Erste Presseberichte stellten das Massaker an den Bauern als Schießerei zwischen zwei Gruppierungen dar. Darauf folgende Untersuchungen ergaben jedoch, dass die Opfer durch schwer bewaffnete, paramilitärische Kräfte aus einem Hinterhalt heraus angegriffen worden waren. Die Opfer des Massakers waren Anhänger der Landarbeiter-Vereinigung Pandos, des FUTCP, und demonstrierten mit etwa 1.000 anderen Männern, Frauen und Kindern gegen die Autonomiebestrebungen. Zuvor hatte es, wie in den anderen östlichen Regionen Boliviens, in der Region Pando Demonstrationen für die Autonomie gegeben.
In einem Bericht der Ständigen Versammlung für Menschenrechte in Bolivien (BPAHR) heißt es, "Beamte der Provinz und Heckenschützen feuerten feige auf Männer, Frauen und Kinder, Bauern und Studenten." Der BPAHR beschuldigte die Straßenbehörden Bauarbeitertrupps geschickt zu haben, die bis zu zwei Meter breite Gräben aushoben, um den Demonstranten das Vorankommen und, als das Feuer eröffnet wurde, das Flüchten zu erschweren.
Der Gouverneur des Departments Pando, Leopoldo Fernandez, wird mit vierzehn weiteren Beamten beschuldigt, das Massaker angeordnet zu haben, und ist verhaftet worden. Ana Melena de Suzuki und weitere Führer des so genannten "Bürgerkomitees", welches die Autonomiebestrebungen der Oligarchie der Grundeigentümer vertritt, sind nach Brasilien geflohen. Sie behaupten von der - wie sie es nennen - "Diktatur Morales" verfolgt zu werden. Bislang hat die brasilianische Regierung dem Bürgerkomitee kein Asyl gewährt. Laut einem bericht der brasilianische Tageszeitung Pagina 12 wurden Suzuki und die andern auf den Straßen der Hauptstadt Brasilia gesehen, obwohl sie angeblich "untergetaucht" sind.
Das Massaker war Teil einer Reihe abgestimmter Angriffe und Provokationen in der Zeit vom 9. bis 14. September. Dabei kam es zur Unterbrechung der Erdgasversorgung nach Brasilien und Argentinien und zur Besetzung von Regierungsgebäuden und Erdgasanlagen. Es gab zahlreiche, unprovozierte Übergriffe auf bolivianische Indios. Eine vorläufige Schätzung der Schäden dessen, was die Regierung als Kampagne des umstürzlerischen Terrorismus bezeichnet, beläuft sich auf 10 Millionen Dollar.
Die Regierung Morales beschuldigte die US- Regierung der Unterstützung des Aufstandes und den Botschafter Philip Goldberg der heimlichen Zusammenarbeit mit den Führern der Autonomiebewegung und wies ihn daraufhin aus. Wegen ihrer Komplizenschaft bei diesem zivilen Staatsstreich wurden auch Büros der US-Behörde für Internationale Entwicklung (USAID) geschlossen.
USAID wurde 1961 als ein Zweig des US- Außenministeriums gegründet, vorgeblich zur "wirtschaftlichen und humanitären Unterstützung" anderer Länder. Hinter dieser Fassade war die Behörde jedoch von Anbeginn ein Werkzeug der Destabilisierung und des Sturzes von Regierungen, die nicht auf der Linie der USA lagen.
In Haiti war USAID eine der US-Agenturen, die halfen, den Präsidenten Jean-Bertrand Aristide zu entführen und auszuweisen. In Venezuela half sie, den misslungenen Militärputsch vom April 2002 gegen Präsident Hugo Chavez zu finanzieren und zu organisieren. In den siebziger Jahren bot USAID Unterschlupf für Folterer und CIA- Agenten, die in Chile, Argentinien und Uruguay die Linke auslöschen sollten. Zu ihnen gehörten Figuren wie Dan Mitrione, der das Personal des Unterdrückungsapparates der Diktaturen Brasiliens und Uruguays in Foltertechniken unterwies.
Als Vergeltung für die Ausweisungen kündigten die USA an, dass sie Bolivien nicht länger als Partner bei der Drogenbekämpfung betrachten und gesetzliche Maßnahmen zur Erhebung von Zöllen auf bolivianische Importe anregen würden.
US-Beamte erklärten, diese Entscheidung sei wegen Boliviens Schließung von USAID und dem Abzug des Personals der US-Drogenbekämpfungsbehörde aus Gebieten mit Verdacht des Kokaanbaues - dem Rohmaterial für Kokain - getroffen worden. Die amerikanische Handelsbeauftragte Susan Schwab erklärte: "Die jüngsten Aktionen der Regierung Morales hinsichtlich der gemeinsamen Drogenbekämpfung sind nicht die eines Partners und entsprechen nicht den Regeln dieser Programme." Der Konsum von Kokablättern ist in Bolivien legal. Die Bauern dieses ärmsten Landes Südamerikas verwenden sie zur Unterdrückung des Hungergefühls und gegen Beschwerden, die durch das Leben in großen Höhenlagen auftreten.
US- Beamte behaupten, dass die Kokaproduktion in Bolivien zunehme, was bolivianische Beamte zurückweisen. Boliviens Regierung wirft der US-Regierung vor, im Auftrag von Teilen des Big Business aufzutreten, die im Kongress und der Bush-Regierung darauf hinwirken, die Handelsbegünstigungen für Bolivien und Ecuador mit der Begründung aufzuheben, die Profite seien durch die Regierungen der beiden Länder nicht hinlänglich garantiert.
Um den Eindruck zu erzeugen in Bolivien herrsche politisches Chaos, wurde darüber hinaus für das gesamte nicht "unbedingt notwendige" US-Botschaftspersonal und dessen Familienangehörige angeordnet, das Land zu verlassen. Allen US- Bürgern wurde ebenfalls empfohlen, das Land zu verlassen. Das Außenministerium berief auch alle 113 freiwilligen Entwicklungshelfer des Friedenskorps aus dem Land. Die Fluggesellschaft American Airlines strich Flüge nach Bolivien.
Das Außenministerium gab eine ominöse Warnung heraus. "US-Bürger, die gegenwärtig in Bolivien sind, sollten aufmerksam die lokalen Medien verfolgen, ihre Sicherheitslage regelmäßig einschätzen und die Abreise in Erwägung ziehen, wenn es ihre Umstände zulassen."
Insgesamt wird das Verhalten der USA in Bolivien und Lateinamerika weithin als offener Versuch der Bush-Regierung angesehen, eine demokratisch gewählte Regierung weiter zu destabilisieren.
In einer Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen warf Morales den USA Ende September vor, das Massaker in Pando und andere Gewaltakte der Sezessionisten nicht als "Terrorismus" verurteilt zu haben. Die Vereinigten Staaten werden von der Regierung in La Paz stark verdächtigt, beteiligt gewesen zu sein am Versuch der "Bürgerkomitees" in den östlichen Halbmondregionen - Beni, Pando, Santa Cruz und Tarija - die Regierung Morales zu stürzen und das Land zu spalten.
Washingtons Sanktionen gegen Bolivien haben die zunehmende Krise der US-Politik in Lateinamerika und den Verlust der Hegemonie in einer Region, die den USA lange als ihr "Hinterhof" galt, verdeutlicht. Unter den Bedingungen einer hartnäckigen Wirtschaftskrise im eigenen Land, der Verstrickung in zwei langwierige Kriege in Afghanistan und dem Irak, schwindet der US- Einfluss in Lateinamerika.
Zunehmend versucht das zum Nettokapitalexporteur aufgestiegene Brasilien - dessen Kapitalexport überwiegend in Lateinamerika bleibt - dieses Machtvakuum auszufüllen.
Auf die Anschläge gegen die Brasilien beliefernde Gaspipeline in der Provinz Santa Cruz reagierte der Präsident der brasilianischen Regierung, Luiz Inacio da Silva, umgehend und stellte gegenüber den nach Autonomie strebenden Eliten der Ostprovinzen Boliviens klar, dass seine Regierung keinerlei Unterbrechungen der Gaslieferungen tolerieren werde, von denen die brasilianischen Industriestädte in Sao Paulo und anderen südlichen Bundesstaaten Brasiliens stark abhängen.
Der brasilianische Präsident ignorierte die Versuche der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) in die Krise einzugreifen. Stattdessen stellte er sich hinter den Vorschlag der chilenischen Präsidentin Michelle Bachelet, zum 15. September ein Gipfeltreffen der kürzlich geschaffenen Union Südamerikanischer Staaten (UNASUR) einzuberufen. Auf dem UNASUR-Treffen im La Moneda-Palast in Santiago machte er klar, dass er Morales unterstütze und weder einen Putsch der Autonomiekräfte der Halbmondregion, noch die Abspaltung der Ostprovinzen Boliviens tolerieren würde.
Zur selben Zeit gründete UNASUR zwei Komitees. Eines zum Vermitteln zwischen Morales und den rebellischen Provinzen, das andere zur Untersuchung des Massakers vom 11. September. Die Vermittlungsbemühungen zielen darauf ab, irgendeine Einigung über die Aufteilung der Profite aus dem Energiesektor zwischen Morales und den Grundeigentümern der Ostprovinzen zu erreichen.
Die Stabilität Boliviens ist ein Schlüsselelement des Wachstums der brasilianischen Industrie. Der Export von Waren und Dienstleistungen - zumeist Schmuck, Zinn, Textilien und Ölprodukte - in die USA belief sich 2007 auf 362 Millionen Dollar. Importiert wurden im selben Zeitraum Waren und Dienstleistungen aus den USA im Wert von 278 Millionen Dollar, was etwa 9 Prozent des bolivianischen Außenhandels entspricht. Im Vergleich zum Handel mit den Mitgliedern des Gemeinsamen Marktes Südamerikas (Mercosur) und besonders mit Brasilien, ist diese Zahl unbedeutend. Im Jahr 2007 entfielen 45,5 Prozent des bolivianischen Exports auf Brasilien, 20 Prozent auf Chile und Argentinien. Dreißig Prozent der Importe kamen aus Brasilien und 27 Prozent aus Chile und Argentinien.
Hinter Lulas Intervention in die Bolivien-Krise stehen die Profitinteressen des brasilianischen Monopolkapitals.
Im Jahr 2005 verstaatlichte Bolivien wieder einen Teil des Energiesektors, der in den Neunzigern privatisiert worden war. Von dieser Maßnahme war Petrobras, Brasiliens staatliche Ölgesellschaft und größter Investor in Boliviens Energiesektor, unverhältnismäßig betroffen. Die Verstaatlichung bewirkte einen zeitweiligen Rückgang der Kapitalzuflüsse und Auslandsinvestitionen in Bolivien. Petrobras’ Bedürfnis, sich beständige Erdgasquellen zu sichern - 68 Prozent des Erdgases werden aus Bolivien importiert - bewog das Unternehmen jedoch, seine Investitionsentscheidung nochmals zu korrigieren.
Morales prahlte kürzlich, dass für das Jahr 2008 mit Rekordinvestitionen aus Brasilien, Chile, Venezuela und dem Iran gerechnet werde. Allein Brasilien hat noch eine Milliarde Dollar Investitionen in Boliviens Energiesektor ausstehen. Bolivien fördert 42 Millionen Kubikfuß Erdgas pro Tag und verbraucht selbst sechs Millionen pro Tag. Die Exporte nach Brasilien belaufen sich auf 31 Millionen Kubikfuß; der Rest versorgt Argentiniens Nordprovinzen.
Gemunkelt wird, Lula habe Morales bei einem Besuch Ende vergangenen Jahres ins Ohr gesäuselt: "Dein Partner ist Brasilien, nicht Venezuela." Lulas Regierung braucht an seiner Grenze ein politisch stabiles Bolivien, das die Versorgung mit Öl, Erdgas und anderen Waren verlässlich garantiert. Deshalb wies Lula einen Vorschlag der chilenischen Präsidentin Bachelet zurück, die OAS, der auch die USA angehören, zum Gipfel nach Santiago einzuladen. Sechs Jahrzehnte lang ist die OAS nahezu immer den Forderungen der USA nachgekommen.
Morales, ein ehemaliger Führer der Gewerkschaft der Kokapflanzer und selbst Aymara- Indianer, wurde im Jahr 2005 mit einer Mehrheit von 55 Prozent der Stimmen gewählt. Bei einem Referendum am 10. August über seinen Verbleib im Amt stieg die Zustimmung für ihn sogar auf 67 Prozent.
Morales, der sich demagogisch gern als Vertreter des "Andensozialismus" ins Licht rückt, machte in seiner Rede vor den Vereinten Nationen deutlich, dass er die Profite der ausländischen multinationalen Unternehmen schützen wird. Einerseits bezeichnete er in dieser Rede den Kapitalismus als den "Feind der Menschheit", andererseits versicherte er ausländischen Investoren in Bolivien, dass sie von seiner Regierung nichts zu befürchten hätten.
"Der Investor, einschließlich Repsol, Petrobras und all den andern, hat nicht nur das Recht seine Investition zurückzuerhalten, sondern auch, Profite zu erzielen," sagte er, bezugnehmend auf die spanischen und brasilianischen Energiekonzerne, die bolivianisches Erdgas vermarkten.
Lula erklärte in seiner Rede vor den Vereinten Nationen, dass " die Entwicklungsländer allmählich die Verbindungen zu den alten Machtzentren hinter sich lassen". Er pries auch die Vorteile des "direkten Gespräches ohne Vermittlung durch die Großmächte" als den Weg zur Lösung der Probleme in den "Entwicklungsländern" an. Das sei der Zweck von UNASUR, erklärte er, die Interessen des brasilianischen Kapitals, die hinter dieser Initiative stehen, im Dunkeln lassend.
Der brasilianische Präsident beteuerte, dass diese Initiative keine "konfrontative Haltung" in sich berge. Es kann jedoch angezweifelt werden, ob man dem in Washingtons Machtzentrale folgen wird. Vorhersehbar ist, dass der US-Imperialismus trotz seiner gegenwärtigen tiefen Krise die jahrhundertealte Herrschaft über die westliche Hemisphäre nicht friedlich aufgeben wird.